Sonja M. gehört seit 2012 zu den Begleitern der Stiftung Leuchtfeuer. Als Leuchtfeuerfamilie betreut sie Kinder und Jugendliche in ihrem eigenen Zuhause. Mit uns hat sie über ihre individuelle Arbeit, ihren familiären Alltag und Allerlei mehr gesprochen.
Das Fachwerkhaus der M. wirkt malerisch. Seine Tür erreicht man über einen verwunschenen, schmalen Weg durch den Garten, in dem ein altes Feuerwehrauto steht. Das Begrüßungskomitee besteht aus zwei umherhüpfenden Hunden, die eifrig mit den Schwänzen wedeln. Die Fenster sind herbstlich dekoriert. Passend zum brausenden Wind, der durch die Zweige der Sträucher fegt. In der Stube ist es urgemütlich. Auf dem großen massiven Holztisch im Esszimmer steht ein Teller mit selbstgebackenen Keksen, das Sideboard daneben zieren liebevoll beschriftete Gläser, die die Namen junger Familienmitglieder tragen. Vier von ihnen sind Gäste auf Zeit; junge Erwachsene, die Frau M. zurzeit in ihrer Leuchtfeuerfamilie betreut.
Mit ihren hochgesteckten roten Locken und den bunten Tattoos passt Sonja M. perfekt in diese einzigartige Umgebung. Die sechsfache Mutter wirkt fröhlich, lebenslustig, aufgeschlossen. Um den Spagat zwischen Arbeit und Familienleben zu meistern, hat sie sich vor 16 Jahren dafür entschieden, eine Sozialpädagogische Lebensgemeinschaft zu gründen. Die Verbindung aus Beruf und Berufung war für sie ideal. „Ich konnte zu Hause sein und das machen, was ich immer gemacht habe: Mutter sein – nur für noch mehr Kinder“, erklärt sie lächelnd. Bevor sie zur Stiftung Leuchtfeuer kam, war sie für zwei andere Träger tätig.
In den vergangenen Jahren hat sie vieles gesehen, gehört, erlebt. Ebenso, wie ihre leiblichen Kinder, die nicht nur Teil ihres Privatlebens, sondern auch ihrer Arbeit sind. Wenn ein junger Mensch in eine Leuchtfeuerfamilie einzieht, tangiert dies zwangläufig den Alltag aller, die unter demselben Dach wohnen. Ein Umstand, der das Zusammenleben und den Familienfrieden manchmal auf die Probe stellt. Beispielsweise, wenn sich betreute Kinder dem Eigentum anderer gegenüber distanzlos verhalten. Abhandengekommen ist in 16 Jahren vieles. Handys, Kameras, Taschengeld, Spardosen, Laptops, Bekleidung und Schminke. „Das war für meine Mädels teilweise schon ziemlich anstrengend“, erzählt Sonja M.. Einmal wurde gar die Bandkasse ihres Lebensgefährten geleert. Mittlerweile begegnet die Fachkraft diesen Geschehnissen mit Gelassenheit. Sie weiß, dass man als Leuchtfeuerfamilie Geduld und einen langen Atem braucht. Neben Verständnis und Konsequenz darf für sie Menschlichkeit nicht fehlen. „Wir reden nicht von den eigenen, wohlbehütet aufgewachsenen Kindern“, erklärt Frau M.. „Das sind Kinder, die nicht bei ihren Eltern leben. Das alleine ist schon ein großes Problem.“ Sie bietet diesen jungen Menschen einen Ankerplatz, an dem sie ihre schweren Rucksäcke ablegen können und zu einem Teil der Gemeinschaft werden. „Mir ist es immer wichtig gewesen, dass meine Kinder und jene, die hier eine Zeit als Gast leben, sich gleich fühlen, auch, wenn sie natürlich nicht denselben Stellenwert haben können, weil sie nicht meine leiblichen Kinder sind“, so Sonja M.. „Sie sind nicht anders, und sie sollen auch nicht anders behandelt werden und sich auch nicht anders fühlen.“
Ein grundlegender Unterschied liegt indes in der Vergangenheit, die die jungen Klienten begleitet. Die Geschichten der Jugendlichen sind düster, beklemmend und nicht selten bedrückend. In den vergangenen Jahren stellte sich Sonja M. des Öfteren die Frage, wieviel man den anderen Familienmitgliedern zumuten kann. „Man möchte ja, dass die eigenen Kinder glücklich sind, dass sie sich wohl fühlen in ihrem Zuhause“, sagt sie. Ihre Kinder haben immer sehr viel Kontakt zu den Neuankömmlingen gehabt. Frau M. bezeichnet sie als „Co-Sozialarbeiter“, die über eine hohe Sozialkompetenz verfügen. „Die meisten Kinder haben sich an meine angedockt und haben ihnen ihre Nöte erzählt, ihre Vergangenheit, ihre Erlebnisse.“ Ihre Kinder waren Spielkameraden, Freunde, Begleiter, Zuhörer. „Das war ehrlicher, näher dran, das ist nicht so dieser Erzieherkram“. Ihre Kinder fanden diese Situationen oft spannend. Gleichermaßen waren sie belastend. Frau M. erzählt von einem Mädchen mit autoaggressivem Verhalten, das sich selbst lange, klaffende Wunden zufügte. Vorwiegend geschah dies nachts. Die Betreute ging dann zu Sonja M. Töchtern und bat diese um Hilfe, weil sie sich nicht traute, einen Erwachsenen ins Boot zu holen. Zu schlecht waren die Erfahrungen, die sie zuvor gesammelt hatte, zu tief saß die Angst vor einer unangebrachten Reaktion. Ihre Töchter haben Sonja M. dann geweckt und sie hat das Mädchen ins Krankenhaus gebracht, um ihre Wunden versorgen zu lassen. „Das sind Situationen, womit Kinder logischerweise Probleme bekommen“, sagt sie. „Wir, als heile Familie, die nie solche Probleme hatte und diese Kinder öffnen sich dann mit einem Abgrund.“ Heute ist ihr bewusst, dass solche Erfahrungen nicht spurlos vorübergehen. „Das habe ich damals nicht immer sofort so gesehen. Deswegen würde ich heute auch sagen, nicht immer nur die Erwachsenen benötigen Supervisionen, sondern eigentlich die Kinder. Die brauchen das viel mehr.“
Unterstützung braucht eine Leuchtfeuerfamilie auch, wenn das Zusammenspiel zwischen Kind und Betreuer einfach nicht gelingen will. Dass ein Setting nicht passt, zeigt sich in den meisten Fällen erst im Laufe der Zeit. Um dann sowohl dem Wohl des Klienten als auch dem der Fachkraft gerecht zu werden, gilt es, rasche Lösungen zu finden. Auch Sonja M. hat solche Herausforderungen erlebt. In diesen schwierigen Situationen fühlte sie sich durch die Stiftung gut begleitet. „Dass der Träger mich schützt und meine Familie schützt, erwarte ich auch. Leuchtfeuer macht das.“
Zwei von Frau M. Töchtern arbeiten im sozialen Bereich. Eine von ihnen denkt darüber nach, später auch einmal eine Sozialpädagogische Lebensgemeinschaft zu gründen. Mittlerweile ist sie selber Mutter und kann sich durchaus vorstellen, ein Kind temporär bei sich aufzunehmen und Beruf mit Berufung zu verbinden. Für ihre Schwester dagegen ist diese Art der Tätigkeit keine Option. Die Intimität des eigenen Zuhauses mit fremden Menschen zu teilen ist ihr immer schwergefallen. Als kleines Kind und als Jugendliche hat sie sich oft gewünscht, ihre Mutter würde einen ganz normalen „from-9-to-5-job“ machen, verrät sie. Es hat sie immens gestört, wenn Dinge gestohlen oder Regeln nicht eingehalten wurden. Heute, als Erwachsene, wirft sie einen sehr reflektierten Rückblick auf die Vergangenheit. Sie weiß, dass es für Kinder, die anders aufgewachsen sind, schwer ist, sich in ein neues, festes, bestehendes System einzufinden und dessen Regeln zu befolgen. „Dadurch entstehen natürlich viele Reibungspunkte“, sagt sie. Sie weiß auch, dass Leuchtfeuerfamilie zu sein keine Rettungsaktion ist, sondern Arbeit. Und dass man keine Dankbarkeit erwarten sollte. In ihren Augen muss ein Kind auch keine Dankbarkeit zeigen, denn: „Jedes Kind hat das Recht auf das Leben in einer Familie. Das muss man sich bewusstmachen. Das Kind wird dich nicht als Retter sehen. Man ist kein Retter, nicht die Mama und oder der Papa.“ Stattdessen ist man der Mensch, der unterstützt, begleitet, Grenzen setzt und Orientierung bietet. Eine verlässliche Person, die da ist. Dass ihre Mutter jederzeit für sie da sein konnte, ein offenes Ohr hatte, anstatt gestresst zwischen Büro, Supermarkt, Küche und Haushalt hin und her zu pendeln wie andere Eltern, schätzt sie in der Retrospektive sehr. Das Potential, in den eigenen vier Wänden bestohlen zu werden, stört sie dagegen heute noch. Um Diebstählen vorzubeugen, schließt sie ihre Zimmertür ab, wenn sie das Haus verlässt. Zudem vermisst sie die Privatsphäre. „Ich konnte als Kind, und kann auch jetzt, nicht mal eben in Unterwäsche durch das Haus flitzen. Das geht einfach nicht. Du hast fremde Menschen im Haus. Das ist, als hätte man ständig Besuch da. Das ist schon eine Einschränkung.“
Zusammenleben kann allerdings auch Zusammenwachsen bedeuten. Auf die Frage, wie viele Kinder sie hat, antwortet Sonja M.: „Acht.“ Wenn das Gegenüber sie dann mit großen Augen anschaut, ergänzt sie: „Sechs leibliche Kinder, aber eigentlich sind es acht.“ Ein Junge und ein Mädchen, die mittlerweile beide erwachsen sind, sind für die M. zu Familienmitgliedern geworden. Auch ihre leibliche Tochter sieht in ihrem neugewonnenen großen Bruder und ihrer Schwester einen immensen Gewinn: „Das ist eine große Bereicherung. Für unser Leben, wie auch für ihres, denke ich“. Ihre Leuchtfeuerschwester heißt inzwischen M.. Als der Richter das Mädchen beim Amtsgericht fragte, warum es diesen Namen annehmen wolle, antwortete sie: „Das heißt ja nicht umsonst Familienname!“.