An den großen Wegkreuzungen des Lebens verabschieden sich Menschen voneinander oder sie finden sich. Die Geschichte von Frau R. erzählt von beiden Erlebnissen, von einem Ende, einem Anfang und einer ganz besonderen Leuchtfeuerfamilie, in der Inklusion jeden Tag aufs Neue gelebt wird.
Seit 2018 begleitet Frau R. die Stiftung Leuchtfeuer im Rahmen einer Sozialpädagogischen Lebensgemeinschaft. Bevor sie an Bord kam, hat sie verschiedene Träger der Kinder- und Jugendhilfe kennen gelernt. Bei der Stiftung Leuchtfeuer stimmt die Chemie. Als der damalige Leiter des Standorts Erfurt zusammen mit einer Koordinatorin vor der großen Holztür ihres Hauses steht, weiß sie sofort „das passt gut zu mir und meinen Vorstellungen.“
Frau R. hat zwei erwachsene Kinder, die an einer zerebralen Bewegungsstörung leiden und auf den Rollstuhl angewiesen sind. Seit 2001 ist sie alleinerziehend. Ihr Wunsch ist es, für ihre Kinder da und zugleich berufstätig sein. Dabei erweist sich das Korsett fester Arbeitszeiten für die Erzieherin als Herausforderung. „Ich kann nicht morgens um halb sechs anfangen, weil ich mich dann noch um meine eigenen Kinder kümmern muss und ich muss um halb vier wieder zu Hause sein“, erläutert Frau R.. So entsteht die Idee, andere Wege einzuschlagen, die es ihr ermöglichen, ihre leiblichen Kinder zu betreuen und weiteren jungen Menschen zu helfen, „einen guten Start ins Leben zu haben“.
Die Entscheidung, eine Leuchtfeuerfamilie zu gründen, trifft Frau R. nicht allein. Sie lebt zu dem Zeitpunkt in einer langjährigen Beziehung mit einem Mann, der ihren Lebensentwurf vollkommen unterstützt. Er hilft ihr bei den Vorbereitungen auf die Belegung und begleitet sie bei Gesprächen mit dem Jugendamt. Alles passt zusammen, der Weg zu ihrem beruflichen Neustart ist geebnet. Im April 2019 ziehen die beiden Brüder Dennis* und Jan* in ihre Leuchtfeuerfamilie ein.
Ein halbes Jahr später verlässt Frau R. Lebensgefährte sie überraschend. Ohne Grund, ohne Erklärung. Was bleibt sind viele offene Fragen und die Scherben eines gemeinsamen Plans, die Frau R. zusammenkehrt und zusammenzukleben beginnt. „Ausschlaggebend für meine Entscheidung war diese Beziehung, in der ich dachte, dieser Mann geht das mit.“ Ohne weitere Unterstützung hätte sie sich die Aufnahme weiterer Kinder nicht zugetraut. Während ihre 24-jährige Tochter sehr viel alleine schafft, benötigt ihr Sohn eine stärkere Betreuung. Frau R. beschließt, den Weg dennoch weiter zu gehen. Mit Erfolg: „Wir haben es gut geschafft“, erzählt sie. „Das haben wir alle gut hinbekommen.“
Eine große Herausforderung bleibt die Organisation des Alltags. Frau R. nennt es „jonglieren“. Zeit zu finden: für ihre leiblichen Kinder, für Dennis und Jan und für sich. Unterstützung erhält sie von ihrer Mutter, die mit der Familie Ausflüge unternimmt oder in den Urlaub fährt und von der Stiftung Leuchtfeuer. Möchte sie eine weitere Meinung einholen oder eine Fallbesprechung durchführen, kann sie sich jederzeit an ihre Koordinatorin oder das Erfurter Team wenden. Darüber hinaus steht ihr eine pädagogische Ergänzungskraft zur Seite. Dies ist insbesondere während des Lockdowns eine große Entlastung. In dieser Zeit intensiviert sich die Betreuung der Brüder. Jan, der ältere der beiden, hat die Empfehlung, auf eine Förderschule zu gehen. Während des pandemiebedingten „Winterschlafs“ fokussiert sich die Erzieherin auf eine intensive 1:1-Betreuung des Kindes. Der Junge ist in der 2. Klasse. Er kann nicht lesen, hibbelt ständig herum, es fällt ihm schwer, beim Essen stillzusitzen. Frau R. minimiert die Reizüberflutung durch Medien. „Am liebsten hätte er alles gleichzeitig gemacht: Radio hören, fernsehen und noch spielen.“ Der Junge macht immense Fortschritte. Weil sich seine Leistungen so stark verbessert haben, erhält er nach dem Lockdown in der Schule eine Auszeichnung. Heute geht er in die 3. Klasse und hat eine Bildungsempfehlung für das Gymnasium bekommen. Ein riesiger Erfolg für ihn und die Leuchtfeuerfamilie. „Wäre der Junge im Kinderheim geblieben, wäre er in die Förderschule gekommen und hinten durchgefallen, obwohl er ein intelligentes Kind ist“, so Frau R.. „Es ist einfach toll, dass man so eine Chance hat. Das richtet alle auf. Wir arbeiten hier großartig zusammen, meine Kinder und ich, und wir freuen uns alle über diese Entwicklungen.“
Eine besondere Rolle spielt in der Leuchtfeuerfamilie R. der Aspekt der Inklusion. Ihre leiblichen Kinder sind körperlich eingeschränkt, die Eltern von Dennis und Jan sind geistig beeinträchtigt und haben psychosomatische Probleme. Die Eltern der Jungen kennt sie bereits aus Treffen bei der Lebenshilfe. Sie verstehen sich gut. Im 14-tägigen Rhythmus besuchen sie die Familie R.. Donnerstags kommen sie vorbei und spielen mit den Kindern, sonntags wird videotelefoniert. Einmal im Monat besucht Dennis seine Großeltern. Dass die beiden Brüder den Weg in Frau R. Familie gefunden haben, ist wie das Einsetzen eines fehlenden Puzzleteils, das ein großes, buntes Bild komplettiert. Ein Teil, auf das die ganze Familie hin gefiebert hat. „Das Haus war schon vorbereitet und wir haben gewartet, dass es endlich mit einer Belegung losgehen kann“; erzählt Frau R.. Alle sind aufgeregt, aber es dauert eine Weile, bis eine passende Belegung gefunden wird. „Ich habe dann zu meiner Tochter gesagt, ‚es kommen die richtigen Kinder zur richtigen Zeit‘“, so Frau R.. „Und so war es auch.“
Ihre leiblichen Kinder verstehen sich sehr gut mit den Brüdern. Ihre Tochter spielt mit Dennis und Jan im Garten oder die zwei besuchen sie in ihrer eigenen Wohnung, in der sie mittlerweile lebt. Hebt Frau R. ihren Sohn aus dem Rollstuhl, schieben die Jungen diesen. Sie sagen ihm „Gute Nacht“ oder holen ihn mit von der Bushaltestelle ab. Im Aufwachsen in einer Inklusionsfamilie sieht Frau R. ganz klar den Wert der Entwicklung sozialer Kompetenzen.
Besonders schön ist es für Frau R., die Entwicklungsschritte von Dennis und Jan mitzuerleben. „Als Dennis hierherkam, war er sieben Jahre alt, sah aber aus, wie ein Fünfjähriger, mit kahlgerupften Stellen auf dem Kopf und jetzt ist er so sehr gewachsen, äußerlich und in seiner Art. Es ist schön, zu sehen, dass die Kinder sich so entwickeln und man sieht, das ist der richtige Weg.“ Dass sie diesen an der Wegkreuzung des Lebens eingeschlagen hat, ist für alle, die mit ihr gehen, ein Geschenk. „Die Dinge geschehen, so wie sie geschehen sollen. Und jeder trägt seinen Rucksack. Das ist für mich meine Aufgabe: es alleine zu schaffen.“
*Die Namen wurde aus datenschutzrechtlichen Gründen geändert.